«Psychische Probleme treten in Krisen häufig erst spät auf»
Finden Sie es nicht auch erstaunlich, dass in den ersten Monaten von Corona die Zahl psychischer Erkrankungen nicht stark zugenommen hat? Dies, obwohl so viele Menschen arg gestresst waren.
Psychische Probleme treten häufig erst in einer späteren Phase einer Krise auf. Aufgrund der menschlichen Fähigkeit zur Resilienz können wir Stresssituationen unterschiedlich lange bewältigen. Natürlich spielt es eine Rolle, wie intensiv diese sind, und in welcher körperlichen und seelischen Verfassung wir uns befinden. Doch irgendwann sind die Kraftreserven aufgebraucht, vor allem, wenn sich eine Situation nicht beruhigt. Dies konnten wir in den letzten Wochen in unserer Praxis beobachten. Wir hatten deutlich mehr, vor allem auch jüngere Patienten, die über Angstgefühle und eine allgemeine Verunsicherung klagten.
Warum diese Zunahme bei der jüngeren Generation?
Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Viele haben noch nie in ihrem Leben eine solch belastende Situation erlebt. Es herrscht Unsicherheit aufgrund einer Überflutung durch die verschiedensten Informationen. Und die Situation auf dem Arbeitsmarkt, Stichwort Jugendarbeitslosigkeit, darf nicht unterschätzt werden.
Wie erleben Sie die Situation heute in Ihrer Praxis?
Es zeigt sich eine ähnliche Situation, wie wir sie bereits nach der Wirtschaftskrise 2008/09 kennengelernt hatten. Auch damals traten vermehrt depressive Erkrankungen, Angst- und Belastungsstörungen auf. Zusätzlich beobachte ich die verschiedensten Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich, in Partnerschaften und Familien. Generell hat die Forschung immer wieder gezeigt, dass sich Wirtschaftskrisen negativ auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung auswirken können. Dies zeigen verschiedene Fallstudienaus Island, Spanien und Griechenland.
«Es ist wirklich schwierig, in den heutigen Zeiten die seelische Balance zu behalten.»
Welche Symptome zeigen sich, wenn die Psyche leidet?
Es gibt eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen und dementsprechend auch sehr viele Symptome. Häufig treten diese am Anfang nicht klar und deutlich auf, sondern eher schleichend und diffus. Es können Gefühle einer allgemeinen Verunsicherung sein oder der Wunsch, sich zu isolieren. Das muss aber nicht unbedingt krankhaft sein. Es könnte sich auch um eine vorübergehende Phase handeln. Sollten sich aber diese Gefühle verstärken und mit einer inneren Anspannung und Schlafstörungen, einem generellen Gefühl der Abgeschlagenheit, Energie- und Hoffnungslosigkeit bis zu Suizidgedanken auftreten, sollte man Hilfe bei einer Fachperson suchen. Auch wenn man häufiger zu Suchtmitteln, Tabletten oder Alkohol greift.
In der diffusen Phase, die Sie erwähnen, ist es manchmal schwierig, sich selber zu spüren und einzuschätzen.
Ja, das kann durchaus sein, dass einem die eigene Wesensveränderung gar nicht so auffällt. Sondern, dass einen vielleicht die Familie oder gute Freunde darauf aufmerksam machen. Es ist wirklich schwierig, in den heutigen Zeiten die seelische Balance zu behalten. Darum wäre es gut, Vertrauenspersonen zu haben, mit denen man – in einem ersten Schritt – seine Gefühle und Ängste teilen kann.
Können bei psychischen Krisen auch körperliche Symptome auftreten?
Ja, es können ebenfalls unterschiedliche körperliche Symptome auftreten. Von Herz-Kreislauf- über Lungen-, Haut- und Verdauungsbeschwerden bis hin zu neurologischen Beschwerden. Als Arzt ist es meine Aufgabe, harmlosere von akuten Symptomen zu unterscheiden, und die nötigen Schritte einzuleiten.
Was soll ich machen, wenn ich das Gefühl habe, dass ich seelisch nicht im Gleichgewicht bin?
In einem ersten Schritt würde ich versuchen, mir tägliche Rituale zu schaffen. Also regelmässige Schlafenszeiten, eine ausgewogene Ernährung, tägliche Bewegung in der Natur und ein regelmässiger, vertrauensvoller Austausch mit Mitmenschen.
Zu welcher Einstellung raten Sie?
Während Krisensituationen finde ich es am Wichtigsten, zu versuchen, Ruhe zu bewahren. Und zu akzeptieren, dass es einfach Situationen gibt, die wir selber nicht oder nur bedingt beeinflussen können. Was wir aber können, ist die eigene Haltung verändern. Manchmal müssen wir Krisen und Umstände einfach aussitzen. Das ist vor allem für verunsicherte und ängstliche Menschen schwierig.
«Wir müssen uns bewusst werden, dass wir in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten eine Ausnahmesituation hatten.»
Vielen macht die eigene Hilflosigkeit zu schaffen
Ja, darum ist auch die Förderung der Resilienz, also der eigenen Widerstandskraft, unglaublich wichtig. Es geht dabei um die Fähigkeit, Krisen zu überstehen und an ihnen zu wachsen. Und auch um Akzeptanz, Optimismus, Loslassen, Neuorientierung, und vieles mehr, das uns stärker machen kann. Wenn wir erfahren, dass wir für unsere Nächsten oder für einen kleinen Kreis von Menschen wichtig sind und etwas Gutes bewegen können, kann dies das Selbstbewusstsein und die Zuversicht fördern. Und zwar nicht nur die der anderen, sondern auch die eigene. So wird auch das Gefühl des Ausgeliefertseins schwächer.
Es ist zu befürchten, dass die Unsicherheiten, was unsere Zukunft betrifft, bestehen bleiben. Warum fällt es uns so schwer, mit dieser Tatsache umzugehen?
Weil die meisten von uns gewohnt sind, in einer politisch, wirtschaftlich und sozial stabilen Situation zu leben. Wir sehen in sehr vielen anderen Ländern deutlich instabilere, sozioökonomische Zustände. Wir müssen uns bewusst werden, dass wir in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten eine Ausnahmesituation hatten. Wenn diese Grundlage bröckelt, wäre es etwas Gutes, wenn wir erkennen, was neben Wohlstand, Sicherheit und Gesundheit wesentlich im Leben ist: die stabilen, wohlwollende zwischenmenschlichen Beziehungen, bei denen man sich gegenseitig unterstützt.
Die Unsicherheit betrifft ja nicht nur uns selber, sondern auch unsere Kinder. Wie erkläre ich ihnen die heutige Situation?
Wir wissen bereits heute, dass auch Kinder und Jugendliche unter der Coronakrise leiden. Teilweise auch mit Spätfolgen. Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Ich empfehle, offen und natürlich altersangepasst zu kommunizieren. Diese Klarheit kann verhindern, dass sie sich in ihrer Fantasie noch Schlimmeres ausmalen.
Kinder reagieren auf Unausgesprochenes und auf die Stimmungen der Eltern sehr sensibel.
Ja, und darum ist es wichtig, ihnen zu erklären, dass eine allfällig angespannte Stimmung in der Familie nichts mit ihnen zu tun hat. Die Formulierung mit dem Wort «wir» sollte bei der Kommunikation zentral sein. So stärken wir unsere Kinder und sie fühlen sich getragen und nicht allein. Sie spüren unsere Zuversicht, wenn wir sagen: «Zusammen schaffen wir das».
Wie gehen Sie persönlich mit der heutigen Situation um?
Am wichtigsten ist für mich die innere Ruhe, die ich beispielsweise in der Natur finde, und eine optimistische Gelassenheit, die zum Glück bereits in meiner Natur liegt. Das gibt mir die Kraft, die ich für meine Patientinnen und Patienten, aber auch für mich selbst, benötige.
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